Frankfurter Allgemeine Zeitung v.11.03.2008
Deutschland ist beileibe kein gefährliches Erdbebengebiet. Auf der Schwäbischen Alb, am Oberrhein, in der Rheinischen Bucht oder im Vogtland rüttelt es zwar gelegentlich. Aber verglichen mit den schweren Erdbeben, die sich in Kalifornien, Japan, Indonesien oder Griechenland ereignen können, sind die Erschütterungen hierzulande aber eher mild. Gleichwohl haben Ingenieure im Ruhrgebiet nun ein Warnsystem entwickelt, mit dem sich Unternehmen und Hausbesitzer in gewissen Grenzen vor den von Erdbeben ausgehenden Gefahren schützen können.
Vorhersage nein, Vorwarnung ja
Bis vor einigen Jahren war die Vorhersage eines der wichtigsten Ziele der Erdbebenkunde. Vor allem in China und den Vereinigten Staaten gab es Forschungsprogramme dazu. Mittlerweile haben die Seismologen aber eingesehen, dass die Vorgänge im Erdinneren, die zu Erdbeben führen, zu komplex sind, um in einfache Vorhersageformeln gepackt zu werden. Zuverlässige Erdbebenvorhersagen, so behaupten sie nahezu einstimmig, seien zurzeit völlig unmöglich.
Dennoch ist man den Erschütterungen nicht völlig hilflos ausgeliefert. In Mexiko, Japan und in Taiwan gibt es inzwischen Systeme, die vor den herannahenden, möglicherweise zerstörerischen Erdbebenwellen warnen. Vor allem in Japan werden Rundfunk- und Fernsehprogramme automatisch für solche Warnungen unterbrochen. Die Vorwarnzeit von bis zu einigen Dutzend Sekunden erlaubt etwa den Kontrollzentren der japanischen Eisenbahngesellschaften, ihre Schnellzüge anzuhalten, und gibt den Bürgern Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.
Diese Warnsysteme beruhen auf der Tatsache, dass es mehrere Typen seismischer Wellen gibt. In ihnen steckt nicht nur unterschiedlich viel Schwingungsenergie, sie breiten sich auch mit deutlich verschiedenen Geschwindigkeiten vom Erdbebenherd aus. Die schnellsten sind die Kompressionswellen. Weil sie stets als Erste an einer Erdbebenmessstation ankommen, werden sie auch Primärwellen oder kurz P-Wellen genannt. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Sekundärwellen (S-Wellen) ist im Durchschnitt etwa 1,7mal langsamer als die der P-Wellen. Physikalisch gesehen, enthalten die S-Wellen viel mehr Energie als die schnelleren vom Typ "P". Deshalb macht sich für einen aufmerksamen Beobachter ein Erdbeben zunächst als leichtes Rumpeln oder Wackeln bemerkbar, bevor es dann zu den schwereren, wellenartigen Erschütterungen kommt, die Sachschäden verursachen können.
Dieser Zeitunterschied ist der Kern aller Erdbebenwarnsysteme. Ereignet sich beispielsweise ein stärkeres Erdbeben 100 Kilometer vom Beobachter entfernt, wird er nach etwa 17 Sekunden die P-Wellen spüren. Die S-Wellen kommen erst nach 28 Sekunden an. Man hat theoretisch also elf Sekunden Zeit, sich auf die schweren Erschütterungen vorzubereiten. Je weiter man von einem Erdbebenherd entfernt ist, desto größer ist der Unterschied in der Ankunftszeit der beiden Wellentypen. Bei Erdbeben ganz in der Nähe schrumpft er dagegen auf wenige Sekunden zusammen.
Detektor in Schuhkartongröße
Die Warnsysteme in Japan und Taiwan nutzen noch ein weiteres physikalisches Naturgesetz. Während sich P-Wellen mit Geschwindigkeiten von etwa sechs bis acht Kilometer je Sekunde ausbreiten, rasen elektromagnetische Wellen mit Lichtgeschwindigkeit (300 000 Kilometer je Sekunde) durch den Äther. In beiden Ländern sind dichte Netze von Seismometern über Funk und Kabel mit Zentralen verbunden. Sobald die ersten Seismometer die P-Wellen eines Bebens spüren, berechnen Computer automatisch die Lage des Erdbebenherdes und die Stärke. Wird ein vorgegebener Schwellenwert, zum Beispiel Magnitude 6, überschritten, gibt es Alarm, dann bleiben einige Dutzend Sekunden, bevor die S-Wellen ihr Unheil anrichten.
Die Ingenieure um Jürgen Pryzbylak von der Sectyelectronics GmbH in Castrop-Rauxel haben dieses System nun erheblich vereinfacht. Sie entwickelten einen Detektor von der Größe eines Schuhkartons, der aus dem Unterschied der Laufzeiten von P- und S-Wellen eine Warnmeldung berechnet. Das Herzstück der Anlage sind Erschütterungsmesser, die ununterbrochen die Vibrationen der Erde aufzeichnen. Werden sie über einen gewissen Grad angeregt, nimmt der im Detektor steckende Mikroprozessor an, dass es sich um eine P-Welle handelt. Er gibt diese Informationen an einen Melder weiter, der beispielsweise eine Sirene ansteuert. Er kann aber auch die Gaszufuhr zum Haus sperren. Damit lässt sich bei schweren Erschütterungen zwar nicht der Bruch einer Gasleitung vermeiden, aber es strömt kein Gas mehr aus, das später explodieren könnte.
Die Anwendungsmöglichkeiten dieser einfachen Detektoren sind vielfältig. In Kalifornien werden ähnliche Systeme anderer Hersteller eingesetzt, um die Garagentore von Feuerwachen automatisch zu öffnen. Bei vielen Erdbeben verklemmten nämlich die Erschütterungen durch die S-Wellen die Tore, so dass die Feuerwehren nicht ausrücken konnten. In Krankenhäusern, Altersheimen und Schulen steuern die Warnmelder die Notstromaggregate. Sie schalten sie schon kurz nach der Ankunft einer P-Welle ein, so dass bei einem durch die S-Wellen verursachten Stromausfall Notstrom sofort zur Verfügung steht. Das System wurde inzwischen in mehreren erdbebengefährdeten Regionen eingesetzt. Unter anderen sind ein Luxushotel in Istanbul, das Rathaus von Athen sowie humanitäre Einrichtungen in Kabul und in Kaschmir damit ausgerüstet.